Die Brüder Nathan und Aron Gerst aus Frankenwinheim zählen zu den ersten Juden, die nach Erlass des Emanzipationsedikts 1861, das alle Städte Bayerns für die Ansiedlung jüdischer Bürger öffnet, nach Kitzingen ziehen. Sie betreiben dort einen erfolgreichen Getreide- und Weingroßhandel und sind Teil des Synagogenbau-Komitees.
Familie Gerst
Frankenwinheim – Kitzingen –– England – USA – Niederlande – Uruguay – Frankreich – Theresienstadt – Izbica – Krasnystaw – Palästina/ Israel
Die Kitzinger Juden leben*
Im Herbst 2018 begibt sich Michele Herman aus Rockville, Maryland, USA mit ihren beiden Kindern, Schwiegerkindern und vier Enkeln auf Spurensuche nach Kitzingen und auf den Jüdischen Friedhof Rödelsee – Nachfahren von Nathan und Jette Gerst und deren Kindern in 3., 4. und 5. Generation…
Am 19. Mai 2023 sind Michele Herman und ihre Enkelin Eliza Fletcher bei der Stolpersteinverlegung für Siegfried, Bruno und Moritz Gerst in Kitzingen dabei.
Pioniere
Die Brüder Nathan (9.6.1843-1917) und Aron Gerst (19.1.1832-1905) aus Frankenwinheim zählen zu den ersten Juden, die nach Erlass des Emanzipationsedikts 1861, das alle Städte Bayerns für die Ansiedlung jüdischer Bürger öffnet, nach Kitzingen ziehen.
Bei ihrem Antrag auf Wohnrecht und Konzession zum Getreidehandel in Kitzingen bescheinigt ihnen die Gemeinde Frankenwinheim 1864 „außer Fleiß auch große Bewanderung in der Ökonomie“.
Aron Gerst hat damals schon ein stattliches Guthaben von 15.000 Gulden vorzuweisen.
Nathan Gerst eröffnet 1874 einen Betrieb in der Landwehrstraße 17 und baut diesen zu einer Getreide- und Weingroßhandlung aus, die er seinen Söhnen Gustav (1871-1944) und Louis (1874-1935) vererbt.
Bauleute waren sie – und doch verpflichtet dem Glauben der Väter*
Aron und Nathan sind ab 1881 Teil des elfköpfigen Synagogenbau-Komitees, Aron wird erster Vorstand der 1865 neu gegründeten orthodoxen jüdischen Gemeinde. Außerdem wirken die Brüder im Armenpflegschaftsrat und im Vorstand der Chewra Kadischa (Beerdigungsbruderschaft), wo Aron 30 Jahre den Vorsitz führen wird.
Die Familie
Aron Gerst heiratet in erster Ehe Karolina (geb. Sonder; 7.2.1835 – 8.11.1872) und in zweiter Ehe Babette (geb. Hahn; gest. 1916 und in Rödelsee beerdigt). Von seinen acht Kindern bleibt keines in Kitzingen wohnen (Eduard, Jg. 1865; Jenny Rimpel, Jg. 1876; Berthold, Jg. 1878; Alfred, Jg. 1882; Helene, Dinah und zwei weitere, die am 10.7.1874 in Rödelsee beerdigt werden. Aron stirbt 1905 und wird in Rödelsee beerdigt.
Nathan Gerst ist 1864, als er nach Kitzingen zieht, bereits einmal verwitwet und heiratet hier Jette (geb. Frank; 30.5.1848 in Burghaslach – 21.11.1908). Sie bekommen 10 Kinder und leben in der Würzburger Str. 6. Nathan Gerst betreibt ab 1874 in der Landwehrstr. 17 die spätere Getreide- und Weingroßhandlung „Bayerische Gersten-Aktiengesellschaft Nathan Gerst und Sohn“.
Gustav Gerst (14.11.1871 – 24.2.1944 in Theresienstadt) besitzt seit 1907 eine weitere Weinhandlung in der Bismarckstraße 7.
Er trägt bereits den vom Herzog von Anhalt verliehenen Titel „Hoflieferant“.
In Kitzingen gründet er den „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, dem er auch vorsteht.
Gustav Gerst wird vom März 1942 bis zu seiner Deportation im September 1942 letzter Vorstand der jüdischen Gemeinde Kitzingen. Seine Frau Bertha (3.6.1878 in Darmstadt – 1959 in Cincinnati/ USA) überlebt die Deportation nach Theresienstadt. Sie kehrt nach der Befreiung am 8.3.1945 für kurze Zeit nach Kitzingen zurück, um sich einen Überblick über den Verbleib der übrigen Familienmitglieder zu verschaffen. Anschließend zieht sie nach Palästina und später in die USA. Die vier Töchter des Ehepaars emigrieren rechtzeitig.
Seit 2018 liegt vor dem Grundstück Bismarckstr. 7 ein Stolperstein für Gustav Gerst.
Helene Klugmann (14.10.1872 – ca. 1940 in Kuba)
Louis Gerst (1.8.1874 – 11.11.1935), verheiratet mit Gunda Karoline (geb. Löwenthal; 1885 – 1934). Beide werden in Rödelsee beerdigt. Ihre Kinder, Claire und der 15jährige Karl, wandern in die USA aus).
Siegfried Gerst (geb. 14.10.1875) ist als Weinhändler tätig. Er heiratet Berta (geb. Badmann; 7.5.1883 in Oettingen). Das Ehepaar hat vier Kinder: Otto; Guido (10.3.1907, emigriert von Frankfurt/M. nach London); Ida Betty (10.12.1909, zieht 1928 nach Frankfurt/ M.); Hertha Laubheim (15.3.1913. Hertha lebt mit Ehemann Paul bis ca. 1939/40 in Dettelbach und zieht dann nach Frankfurt/ M., von wo aus sie am 25.4.1942 nach Krasnystaw deportiert werden.
Siegfried zieht mit seiner Familie mehrfach in Kitzingen um: Würzburger Str. 6 (sein Elternhaus), Bismarckstr. 7 (bei Bruder Gustav), Moltkestr. 15, Moltkestr. 21, Wörthstr. 14. Von der letzten Wohnung im sog. Judenhaus, Luitpoldstr. 14, wird das Ehepaar am 24.3.1042 nach Izbica deportiert und ermordet.
Meta Münz (geb. 1877 in Kitzingen) zieht nach Nürnberg.
Bruno Gerst (19.8.1878, ermordet in Auschwitz) lebt ab 1908 in Würzburg als Inhaber einer Weingroßhandlung. Er heiratet Marianne (geb. Mars, 17.12.1913 in Schweinfurt), mit der er zwei Söhne hat: Georg (geb. 14.12.1913) und Alfred (geb. 29.01.1915). Bruno nimmt als Unteroffizier am Ersten Weltkrieg teil und wird mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. 1923 zieht er mit seiner Familie nach Leipzig. Er wird Mitglied der rechtsliberalen Deutschen Staatspartei und engagiert sich in der jüdischen Gemeinde, auch als Mitglied der Chewra Kadischa. 1935 wird er in sog. Schutzhaft genommen und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Erst wird er im Gefängnis Bautzen und anschließend vom 17.6. bis 20.10.1938 im KZ Sachsenhausen festgehalten. Bruno Gerst flieht in die Niederlande, wird im Lager Westerbork, anschließend im Kamp Vught interniert und von dort nach Auschwitz deportiert, wo er am 12.2.1943 ermordet wird. In Oss/NL, wo er 1942 wohnt, wird ein Stolperstein für ihn verlegt. Seine Frau Marianne wird am 21.1.1942 von Leipzig nach Riga deportiert und ermordet.
Die beiden Söhne engagieren sich in Leipzig in einer kommunistischen Jugendvereinigung, die im Widerstand aktiv ist. Schnell werden sie denunziert und verhaftet. Wegen ihrer politischen Haltung und der jüdischen Abstammung werden sie gleich aus zwei Gründen verfolgt.
Georg kann nach zwei Jahren und neun Monaten Haft am 15.4.1937 das Land verlassen und flieht zunächst nach Jugoslawien. Vermutlich überlebt er als einziger der Familie in Uruguay.
Alfred wird wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu drei Jahren und neun Monaten Haft sowie vier Jahren Ehrverlust verurteilt und am 28.6.1934 in das Zuchthaus Waldheim, am 04.6.1938 in das KZ Dachau eingeliefert, anschließend in das KZ Buchenwald und in das KZ Sachsenhausen überstellt. Dort stirbt er am 22.2.1942.
Sali Gerst (5.2.1880 – 17.6.1917) fällt im Ersten Weltkrieg an der Ostfront. Laut der Inschrift auf dem Gefallenendenkmal im Jüdischen Friedhof Rödelsee werden seine sterblichen Überreste später aus Daisle/ Russland dorthin überführt und unter großer Anteilnahme bestattet.
Im Haus in der Nähe der Synagoge bleibt die Witwe Ida, geb. Bretzfelder aus Estenfeld, mit drei kleinen Kindern zurück: Henriette (Jg. 1910), Isbert (Jg. 1912) und Ruth (Jg. 1915).
Sie werden der Shoah durch Emigration nach Palästina und in die USA entkommen. Henriette ist die Mutter von Michele Herman.
Die Schwägerinnen Ida und Bertha Gerst gehören zur letzten Kitzinger Chewra Kadischa der Frauen.
Moritz Gerst (16.12.1881) war das jüngste Kind von Nathan und Jette. Er heiratet Johanna, geb. Goldstein, die 1911 verstirbt und auf dem Friedhof in Rödelsee beigesetzt ist. Moritz zieht nach Nürnberg und heiratet später Olga, geb. Kahn. Die Familie wohnt in der Breiten Gasse 55. Die 1917 geborene Tochter Margot kann 1939 nach London emigrieren, ihre Eltern werden am 29.11.1941 nach Riga-Jungfernhof deportiert und Opfer der Schoa.
Zwei weitere Söhne von Nathan und Jette Gerst sterben im Kindesalter und werden am 08.4.1887 in Rödelsee in einem Grab beerdigt.
Claudia Großmann-Gonschorek und Margret Löther