In alle Welt verstreut sind die jetzt noch lebenden Mitglieder der Familie Mohrenwitz. Ihr beruflicher Aufstieg begann in Sommerach. Dort wohnten im Jahr 1817 100 Juden, darunter Löb Samson, der mit Wein, Vieh und „sonstigen Gegenständen“ handelte und als Stammvater dieser jüdischen Familie gilt.
Familie Mohrenwitz
Es sind überraschend nüchterne und berührende 27 Zeilen, abgefasst in einer klaren, festen und markanten Schrift. Sie gelangten über einen Nachlass ins Gemeinde-Archiv Sommerach. Ein 79-jähriger jüdischer Bürger namens Abraham August Mohrenwitz ist der Absender des Briefes. Er wollte einem Sommeracher Bürger offenbar eine Freude bereiten – in einer Zeit, die für den Schreiber selbst zu einer wenig freudvollen werden sollte: die Nationalsozialisten hatten ein paar Monate zuvor die Macht übernommen.
Der Brief wurde am 12. Juli 1933 von Frankfurt am Main aus der Bürgerstraße 10, wie ausdrücklich vermerkt, abgesendet. Er ging an den „Gasthofbesitzer zum Schwan“ in Sommerach. Offenbar hatte August Mohrenwitz schon zu lange keine Kontakte mehr zu seinem Geburtsort Sommerach, so dass er nicht wissen konnte, dass der Besitzer Franz Schmitt schon 1930 verstorben war. Zu dieser Zeit führte dessen Frau den renommierten Gasthof: Margarete Schmitt mit ihren beiden Töchtern Agnes und Ida.
Vordergründiger Zweck des Briefes war ein Originaldokument, das Mohrenwitz nach Sommerach zurücksenden wollte. Unter den Papieren seiner Vorfahren hatte er eine „Billard-Conzession gefunden“. Er schlug deshalb vor, dieses historische Dokument vielleicht in einem Gastzimmer „als Erinnerung an die Vergangenheit“ aufzuhängen.
Der „Gastwirth zur Schwanen zu Sommerach“, Dominicus Mohr, hatte die Konzession für das Billardspiel beantragt und das „königlich baierische Landgericht im Untermainkreis Volkach“ hatte sie am 9. Mai 1817 genehmigt. Aus der Urkunde geht hervor, was die Behörden damals über diesen neumodischen Zeitvertreib dachten. „Nur angesehenen Fremden und Einwohnern mit Ausschluß der Jugend“ war Billard gestattet, wie ausdrücklich vermerkt wurde.
Dominicus Mohr war seit etwa 1809 der zweite Wirt der Schwane. Er wird in einem „Jubiläumsblatt“ von 1900 als „ein feingebildeter Mann, im Umgang sehr gefällig“ beschrieben. Er habe die Schwane „zu hohem Schwung durch feine Küche und ausgezeichneten Keller“ gebracht, heißt es dort weiter. Zu den Besonderheiten des Hauses gehörte eben auch der Billardtisch.
Nach seinem Tod im Februar 1849 kam die Gaststätte bis etwa 1866 in den Besitz der jüdischen Familien Samson und Lämmlein (Levi) Mohrenwitz aus Sommerach. Beide betrieben Weinhandel, Samson in dem stattlichen Gasthof und sein Bruder Lämmlein einen Steinwurf entfernt in der jetzigen Maintorstraße 14, dem Anwesen der Familie Lothar Utz. In diesem Haus wurde Levis Sohn, der Briefschreiber, am 26. Juni 1854 geboren. In Sommerach verbrachte er bis 1866 die ersten zwölf Jahre seines Lebens, dann zog seine Familie nach Schweinfurt.
Eingeprägt hatte sich ihm bis ins hohe Alter ein Detail seiner Kindheit: der Billardtisch. Mohrenwitz kannte den Gasthof seiner Verwandten und wusste noch Jahrzehnte später genau, wo er stand, nämlich „im 1. Stock im Saal“. Eine große „Errungenschaft“, so schreibt er, stelle im Rückblick die „Anschaffung eines Billards in den damaligen Zeiten für den feinen Gasthof“ dar. Auch zeuge ein solches Spielgerät „von dem fortschrittlichen Geist der besseren Einwohner und der einkehrenden Fremden der alten Zeit“.
Obwohl die jüdische Gemeinde in Sommerach, die im 19. Jahrhundert bis zu über 100 Personen stark war, einigen Anfeindungen der übrigen Bewohner ausgesetzt war, für August Mohrenwitz hielt der Winzerort offenbar schöne Kindheitsjahre bereit.
„Ich denke noch gerne an meinen Geburtsort Sommerach“, schreibt er und schließt seinen Brief mit einer Bitte: „Sollten noch Altersgenossen von mir am Leben sein, bitte diese vielmals von mir zu grüßen“. Deshalb fügt er nach der Grußzeile „Hochachtend A. Mohrenwitz“ ganz bewusst „geb. 26. Juni 1854“ hinzu.
Kaum anzunehmen, dass ein Schulkamerad angesichts der aggressiv antisemitischen und menschenverachtenden politischen Umstände reagiert hat. Dem heutigen Leser erscheint das emotionslose Schreiben des 79-Jährigen wie ein unausgesprochener Hilferuf: Als habe August Mohrenwitz mit der Übersendung der Konzessionsurkunde für das Billardspiel nur einen Vorwand gesucht, um sich in Erinnerung zu bringen und sich nach den besseren Zeiten eines langen Lebens zurückzusehnen.
Dieser unerwartete Gruß aus Frankfurt war für die Wirtsfamilie Schmitt nicht ohne Bedeutung. Sonst hätte sie den Brief des gebürtigen Sommerachers nicht aufbewahrt und davon sogar eine Kopie anfertigen lassen, die jetzt im Gemeinde-Archiv liegt. Abraham August Mohrenwitz starb unter erbärmlichen Umständen 1942 in Wiesbaden im Alter von 88 Jahren. Am Ende entrechtet und umhergestoßen.
Elmar Hochholzer