„Nichts mehr zu sagen und nichts mehr zu sagen“ lautet der Titel eines Buchs in dem wir nachlesen können, was die Autoren über Ricka Hahn und ihre Familie aus Kleinlangheim noch in Erfahrung bringen konnten: Am Grab einer alten Jüdin. Die Hahns.
Der Postbus kommt morgens um 9 Uhr nach Kleinlangheim. Man steigt am Rathaus aus.
In all den Jahren hat sich der Ortskern kaum verändert.
Mit zwei historischen Fotografien in der Hand gehen wir auf Spurensuche: „Wiesenbronner Straße Nummer 5″.
Eine Jüdin sitzt vor dem Haus. Neben ihr Enkelin und Urenkelin. Drei von vier Generationen vor einem Bauernhaus in Franken. Ein Idyll – Deutschland vor sechzig Jahren.
Ein Idyll? – Deutschland vor sechzig Jahren.
Wo ist die alte Jüdin? Wo die Enkelin? Wo die Urenkelin?
Wir finden das Haus.
Wir kennen die Geschichte.
Die Geschichte in Kleinlangheim.
Die Geschichte von Antisemiten und Nazis, die Geschichte von Juden: Von Häusern, die brannten, von zerhackten Obstbäumen, angebohrten Weinfässern und zerschlagenen Fensterscheiben. Von geplünderten Weinkellern, der brennenden Synagoge und geschlagenen Menschen.
Lange vor 1933 – und erst recht nach 1933.
Und wir kennen die alte Jüdin. Aus Erzählungen.
Aus Erzählungen in Jerusalem und in New York, in Lübeck und Petach Tikwah, Israel.
Wir wissen um Ricka Hahn.
Und daß ein Grabstein existiert. In Rödelsee existiert.
Und wir können ihn nicht finden. –
Wir müssen ihn neu entdecken. Vor Jahren zufällig gefunden, ist er wieder übermoost und mit dicken Flechten zugewuchert. Erneut müssen sie abgeschabt werden, mit warmem Wasser der Stein gereinigt – der Name erscheint:
Ricka Hahn, Kleinlangheim, gestorben 1938
Und wo sind die Kinder? Wo sind die Enkel? Wo die Urenkel der alten Jüdin vor dem Haus in Kleinlangheim, unter dem Stein in Rödelsee?
Ein anderes Foto: keine bescheidene Treppe vor einem Bauernhaus,
– nein, eine Schloßtreppe. Die Schloßtreppe von Veitshöchheim – vom Sommerschloß der Bischöfe, der barocken katholischen Bischöfe von Würzburg.
Die Nachfahren der armen, geplagten fränkischen Dorfjuden stehen zum Gruppenfoto auf der Schloßtreppe von Veitshöchheim.
Stolze selbstbewußte Bürger.
Das sind die Kinder der Ricka Hahn:
Der jüngste der Söhne, der Simon, der zuletzt Kleinlangheim verließ und nach Kitzingen ging mit seiner Frau Rosa, einer geborenen Sondhelm, der Tochter von Hermann Sondhelm aus dem schönen großen Haus am Anfang der Wiesenbronner Straße. –
Und der Justin, der kleine Justin mit acht, neun Jahren.
Wo sind sie geblieben, die dort dastehen wie die Zinnsoldaten, hintereinander, der Vater, die Mutter, der Sohn?
In Belzec sind sie geblieben, in Bergen-Belsen!
Verhungert, vergast.
Auf der Schloßtreppe von Veitshöchheim.
Neben dem Simon der Oskar, der ältere Bruder, der Vorstand der Gemeinde, SPD-Mitglied, der „öffentliche“ der zwei Brüder
von „Gebrüder Hahn“, der Weinhandlung in der Bahnhofstraße 9
in Kitzingen.
Heinrich, der andere, steht rechts außen.
Und zwischen ihnen Jakob.
Jakob Hahn, von dem bis zum heutigen Tag niemand in der Familie genau weiß, was ihm geschah.
Von Frankfurt aus wurde er deportiert. –
In den Frankfurter Deportationslisten sind zwei Jakob Hahn aufgeführt, ungefähr gleichen Alters. Welcher ist der unsere, welches
war sein weiteres Schicksal? Wir wissen es nicht.
Gruppenbild Familie Hahn 1m Ve1tshöchhe1meSr chießpark. Hintere Reihe von links nach rechts: Simon Hahn, Oskar Hahn, Jakob Hahn, Heinrich Hahn. Mittlere Reihe: Rosa Hahn, Hannchen Hahn, FrauS chechter,g eb. Hahn, Fr1eda Hahn, Simon Schechter Vordere Reihe:J ust1nH ahn, Erna Rossmanne, ine Tochter der Fam1l1e Reich, Gerda Hahn.
Wir wissen, daß Oskar und Heinrich mit ihren Familien aus Nazideutschland
fliehen konnten, mit ihren Ehefrauen Hannchen und
Frieda – hier auf der Veitshöchheimer Schloßtreppe vor ihren Männern stehend, beide waren sie Mitglieder der Chewrah Kaddischa
der Frauen in Kitzingen, wir sehen sie auch auf dem großen Bild der Chewrah, ganz links in der hinteren Reihe und vorne äußerst rechts. Wir wissen, daß ihre Kinder heute in den USA leben; daß Gerda, die Tochter von Oskar und Hannchen Hahn, bei einem Verkehrsunfall in den Staaten ums Leben kam; daß die Schechters und Erna Rossmann die Shoah überlebten. Und daß das kleine Mädchen in der ersten Reihe, wahrscheinlich ein Kind aus der Familie Reich, deportiert und ermordet wurde.
Das sind die Menschen auf der Schloßtreppe der Bischöfe von Würzburg in Veitshöchheim.
Das sind einige der Kinder und der Enkel der Ricka Hahn von Kleinlangheim, von Rödelsee.
Manche wurden ermordet.
Manche haben überlebt.
Warum? Wir wissen es nicht.
Wir wissen nur, daß Ricka Hahn und ihr Mann Löb Hahn die einzigen der Familie sind, die in Rödelsee beerdigt wurden.
Vorher brachte man die Toten auf den Friedhof von Gerolzhofen,
da die Familie aus Kirchschönbach kam. –
Und nachher?
Die Enkel, die Urenkel und die Ururenkel leben in Israel und in Amerika.
Wir wissen nicht, wer von ihnen das Grab der Ricka Hahn kennt. Aber wenn sie kommen, sollen sie es finden.
Das ist das wenigste.