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Irene Katz

Irene Lärmer, von ihrer Mutter Frieda liebevoll Reni genannt, wird 1924 in Dornheim geboren. Sie überlebt den Holocaust und wird in ihrer neuen amerikanischen Heimat zu einer wichtigen Zeitzeugin der Shoah, die zu vielen Festakten der Erinnerungskultur eingeladen wird.

Irene Katz

geborene Lärmer (1924-2017): die einzige Dornheimer Überlebende der Shoah

Irene Lärmer, von ihrer Mutter Frieda liebevoll Reni genannt, wird am 15. Februar 1924 in Dornheim in der Hausnummer 5 geboren. Dieses Haus wurde noch eine Generation zuvor gemeinsam von den jüdischen Familien Lärmer und Schönfärber bewohnt, und das Dachgeschoss diente bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Dorfsynagoge. Die orthodoxe Familie Lärmer ist erstmals 1796 in Dornheim nachweisbar, als Wolf, Sohn des Marx, aus Demmelsdorf (heute zu Scheßlitz im Landkreis Bamberg gehörig) die Dornheimer Jüdin Feuerle Moyses Levi ehelicht. Im Zuge des Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern (1813) nimmt dieser Wolf den Familiennamen Lärmer an.

Als Irene geboren wird, sind fast nur noch ältere jüdische Mitbürger in Dornheim verblieben – die jüngeren sind in die Städte abgewandert. Als das einzige schulpflichtige jüdische Kind im Dorf wünschen sich ihre Mutter, die im Haushalt lebende unverheiratete Großtante und die Großeltern mütterlicherseits eine jüdische Schulbildung für Irene und so kommt diese bereits mit sechs Jahren nach Fürth in die jüdische Schule. Dort wohnt sie unter der Woche in der ältesten israelitischen

Waisenanstalt Deutschlands, das in seinen Mauern als seine Art Internat einen geschützten Bereich mit Einhaltung des jüdischen Kultus bietet: neben dem Sabbat-Gebot und der Feier der hohen Feiertage beinhaltet dies etwa koschere Verpflegung. Hier erlebt Irene die nationalsozialistische Pogromnacht am 9. November 1938 zusammen mit ihrer Cousine Marga Loewi aus Erlangen, deren verwitwete Mutter Rosa, eine geborene Lärmer, Friedas Schwester ist. In dieser Nacht wird die Synagoge der Anstalt von einem Mob zerstört und große Teile des Geländes stark in Mitleidenschaft gezogen.

Im Rahmen der Jugend-Aliyah, einer jüdischen Organisation, die ab 1933 versuchte, möglichst viele Kinder und Jugendliche in das von den Briten verwalteten Völkerbundmandat Palästina in Sicherheit zu bringen, gelangt Irene im November 1940 in den Gehringshof. Dieses Gut im Hessischen sollte jüdischen Jugendlichen landwirtschaftliche Kenntnisse vermitteln, die die Briten als Voraussetzung für die Einwanderung forderten. Im Juni 1941 kehrt Irene nach Franken zurück und besucht dort die letzte jüdischen Schülern offenstehende Ausbildungsstätte in Nürnberg, die jüdische Volks- und Berufsschule in der Oberen Kanalstraße 25; sie möchte Kinderkrankenschwester werden. Sie muss in der Steinbühlstraße 9 in ein sogenanntes „Judenhaus” ziehen, wo bereits vor der Deportation in die Konzentrationslager jüdische Deutsche zwangsweise in engsten Verhältnissen wohnen mussten.

Infolge der in diesem Jahr 1941 in Berlin beschlossenen „Endlösung“, die Vernichtung jüdischen Lebens, sind Irene und ihre Mutter Frieda Lärmer unter den ersten 1000 mittelfränkischen Juden, die offiziell nach dem „Osten umgesiedelt“ werden sollen. Tatsächlich geht der vom Bahnhof Nürnberg-Märzfeld (zum Reichsparteitagsgelände gehörend, heute Langwasser) startende Zug ins von der deutschen Wehrmacht eroberte lettische Riga. Mit im Zug ist auch die gesamte Familie von Rosa Loewi aus Erlangen: neben Marga die Kinder Irmgard und Ludwig. Eine weitere Schwester mit Familie von Frieda und Rosa ist ebenfalls bei dieser Deportation dabei: Fanny Hofmann. Sie hatte 1922 den Windsbacher Siegfried Hofmann in einer Art doppelten Doppelhochzeit geheiratet, da auch gleichzeitig Siegfrieds Schwester Anna Hofmann Fannys Bruder Benjamin (Benno) Lärmer ehelichte. Die aus diesen Ehen hervorgehenden gewissermaßen doppelten Cousinen Lydia Lärmer und Alice Hofmann wuchsen wie Schwestern in Windsbach auf.

Die Ankunft im eiskalten Riga und die Einquartierung im nationalsozialistischen Ghetto, einer Art Konzentrationslager mitten in der historischen Stadt, bedeutet für alle Lärmer’schen Abkömmlinge den Beginn einer schrecklichen Odyssee durch nahe gelegene Konzentrationslager wie Jungfernhof und Kaiserwald. Ludwig und die Familien Hofmann und Lärmer aus Windsbach werden die menschenverachtende Mischung aus drakonischer Zwangsarbeit und systematischer Unterernährung nicht überleben. Irene und ihre von Arthritis geplagte Mutter werden bald nach ihrer Ankunft in Lettland getrennt und sie werden sich nie wieder sehen.

In Riga lernt Irene einen inhaftierten Lübecker, Josef Katz, kennen, mit dem sie ihr letztes Brot durch ein Gefängnisfenster teilt. Als sie und die anderen KZ-Häftlinge als Folge der militärischen Erfolge der Roten Armee immer weiter nach Westen verlegt werden, tritt Irene von ihrem letztem KZ, Stutthof bei Danzig, den Todesmarsch nach Berlin an und wird von den Russen befreit. Im heute noch existierenden Jüdischen Krankenhaus (1756 gegründet), damals die einzige jüdische Institution in Berlin, die die gesamte NS-Zeit offen geblieben war, trifft sie Josef Katz wieder. Sie heiraten noch im völlig zerstörten Deutschland und wandern dank eines speziellen US-Kontingents für Überlebende der Shoah in die USA aus, wohin auch Rosa mit ihrer Tochter Marga gelangt. Irmgard wird hinter dem Eisernen Vorhang bleiben und einen jüdischen Letten heiraten; erst 1959 kann die Familie Klawansky über Erlangen in die USA emigrieren. Auch Marga heiratet einen Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung jüdischer Deutscher, Otto Hahn aus Prichsenstadt.

Irene und Josef machen sich mit dem Handel von Pullovern nach einiger Zeit selbständig und ziehen Anfang der 1950er Jahre ins sonnige Kalifornien, wo Josef später ins Immobiliengeschäft einsteigt. In Los Angeles wird ihre Tochter Jeanne 1952 geboren. Als diese die University of California at Los Angeles (UCLA) ab 1970 besucht und dort auch Deutsch belegt, wird Josefs Manuskript, das er über seine KZ-Erfahrungen unmittelbar nach seiner Ankunft in den Staaten verfasst hat, wieder entdeckt und vom Deutschen ins Englische übersetzt. Josef Katz‘ „One who came back“ gehört in den USA zu den bekanntesten Zeitzeugenberichten der Shoah.

Ihre Tochter Jeanne Katz Olson begleitet Irene, als diese verwitwet auf vielen Vorträgen durch das Land, denn Jeanne organisiert für das US Holocaust National Museum in Washington D.C. die Vorträge und Auftritte der letzten life speakers. Irene verstirbt fast 93-jährig Ende Januar 2017 in Los Angeles als hochgeachtete Shoah-Überlebende, die zu vielen Festakten der Erinnerungskultur in den USA eingeladen wird. Auf dem interreligiösen Hillside Memorial Park wird Irene neben ihrem Mann

Josef begraben; sie ruht dort fast 9.500 km fern von Dornheim.

Hildegard Wiegel

Irene Katz (links) und der Senator Frank Lautenberg (rechts) im Jahr 2008 in Washington, DC. Foto: Getty Images 80948997

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