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Die Altenschönbacher Genisa

Das hebräische Wort „Genisa” (Plural: „Genisoth”) bedeutet soviel wie „Lager, Depot, Fach”.

 

Eine Genisa ist ein Ort, an dem nicht mehr nutzbare religiöse Schriften – aber auch profane, die den Gottesnamen enthalten oder enthalten können – zusammen mit unbrauchbar gewordenen rituellen Gegenständen aufbewahrt werden.

 

Der Ort für die Aufbewahrung ist normalerweise ein besonderer Raum oder ein Fach in einer Synagoge, man findet Genisoth aber auch in jüdischen Privathäusern. Meist sind sie versteckt, z. B. im Dachboden der Synagoge oder zwischen den Dachsparren, aber oft auch in Zwischenwänden etc.

 

In den meisten Genisoth sind auch profane Dinge zu finden, z. B. Texte in hebräischer Schrift wie Kalender, Briefe, Verträge, Alltagsliteratur – gedruckt oder handschriftlich.

 

Und es gibt auch viele Fundstücke, die dem religiösen und sogar nicht-religiösen Alltagsleben der jüdischen Gemeinden entstammen, z. B. unbrauchbar gewordene Gebetsmäntel, Gebetsriemen, aber etwa auch Kindermützen und Kinderschuhe.

 

Von Zeit zu Zeit wurde die Genisa geleert und ihr Inhalt in einem besonderen Grab auf dem zuständigen jüdischen Friedhof „beerdigt” – je nach Fassungsvermögen der Genisa konnte aber zwischen der Ablagerung und der Bestattung ein langer Zeitraum vergehen.

 

Die bedeutendste und mit etwa 200.000 Einzelstücken umfangreichste Genisa wurde 1890 in der Ben-Esra-Synagoge in der ägyptischen Hauptstadt Kairo bei Renovierungsarbeiten entdeckt. Die Fundstücke – die teilweise bis ins 8. Jahrhundert zurückgehen – sind mittlerweile fast über die ganze Welt verstreut, viele findet man in Großbritannien, Russland und anderen Ländern.

 

In Franken konnte man – nach dem Zweiten Weltkrieg – hauptsächlich in den zweckentfremdeten und geschändeten, aber durch engagierte Menschen geretteten Synagogen insgesamt etwa 40 Genisoth sicherstellen. Als zentrale Stelle zur Sichtung, Beschreibung, Verifizierung und Inventarisierung der Genisoth aus Unter- und Oberfranken wurde 1998 das „Genisa-Projekt Veitshöchheim” gegründet, welches dem Jüdischen Museum Veitshöchheim angegliedert ist und von der Gemeinde Veitshöchheim, dem Bezirk Unterfranken und vielen anderen Institutionen finanziell getragen wird. Zahlreiche Fundstücke aus verschiedenen Genisoth sind im Museum ausgestellt.

 

Im Landkreis Kitzingen hat man bisher 3 Genisoth entdeckt, nämlich in Altenschönbach, Hüttenheim und Wiesenbronn.

 

Bei Umbau- bzw. Renovierungsarbeiten entdeckte man 1988/89 im Dachboden der ehemaligen Synagoge in Altenschönbach eine sehr umfangreiche Genisa. Sie wurde in 12 großen Kartons zunächst in die Jüdische Forschungsstätte nach Ansbach gebracht, kam nach deren Auflösung zunächst in das Jüdische Museum nach Fürth und schließlich 2002 nach Veitshöchheim. Nach Aussonderung von besonders stark beschädigtem Material wurden insgesamt etwa 1.000 Einzelstücke inventarisiert.

In Hüttenheim fand man bei Sanierungsarbeiten in der Mauerkrone an der Ostseite der ehemaligen Synagoge die Reste von 3 bis 4 Gebetbüchern, Sie wurden angeblich in das Bauarchiv des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege nach Thierhaupten gebracht.

 

In den Jahren von 1996 bis 1999 erfolgte eine grundlegende Renovierung des Synagogengebäudes uns sein behutsamer Umbau zu einem Wohnhaus. Dabei wurden auch die Reste einer Genisa entdeckt, die allerdings – wohl durch Mäusefraß – sehr stark beschädigt sind. Die Fundstücke wurden dem Genisa-Projekt in Veitshöchheim übergeben.

 

Bei den Arbeiten zur Sanierung des Daches der ehemaligen Synagoge in Wiesenbronn fand man zwischen 2006 und 2011 in den Dachtraufen und zwischen den Dachsparren die vermutlichen Reste einer umfangreichen Genisa – den größten Teil der Wiesenbronner Genisa hatte man aber wohl um 1950 bei einer Neueindeckung des Daches achtlos und unbesehen als „Müll” entsorgt.

 

Die ab 2006 sichergestellten Reste wurden sorgfältig geborgen und dokumentiert. Sie kamen nach Veitshöchheim zur Inventarisierung und Auswertung im Rahmen des Genisa-Forschungsprojektes. Dabei ergab sich, dass trotz der relativ kleinen Anzahl der Fundstücke sämtliche Gattungen an Texten vertreten sind, die auch in den anderen Genisoth den Hauptanteil ausmachen (z. B. verschiedene Gebetbücher, Bibelübersetzungen und Ritualien). Daneben fand man auch kleinere Besonderheiten, wie z. B. bisher unbekannte jiddische Literatur, Mesusarollen oder zahlreiche Lulav-Fragmente, die von Feststräußen herrühren, die man zum Laubhüttenfest (Sukkot) band.

 

Die dokumentierten Überreste der Genisa von Wiesenbronn bildeten die Grundlage für eine Magisterarbeit von Andrea Strößner an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Diese Arbeit ist – ergänzt mit einigen Beiträgen zum Thema Genisa – im Jahre 2021 in Buchform publiziert worden. Zahlreiche Photos der Fundstücke stammen von Reinhard Hüßner, der das Gebäude der ehemaligen Synagoge vor einigen Jahren erworben und in liebevoller Weise restauriert sowie teilweise wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt hat.

 

Im Erdgeschoss des Gebäudes ist auch die ehemalige Mikwe freigelegt worden und es gibt eine sehenswerte Ausstellung zum Thema „Jüdisches Leben in Wiesenbronn”, u. a. mit verschiedenen Exponaten aus der Genisa.

 

 

Wolf-Dieter Gutsch