Textgröße

Ein „Guter Ort“ – Der Jüdische Friedhof Rödelsee

Seit der Weinort Rödelsee eine Aussichtsplattform am Hang des Schwanbergs installiert hat, gerät der uralte Friedhof auch aus der Vogelperspektive ins Blickfeld und Bewusstsein.

 

Kaum eine Besucherin oder ein Besucher können sich der archaischen Wirkung der „Juden Schedelstatt“ entziehen, die durch eine 600 m lange Mauer eingefriedet ist.

 

1432 und 1526 erstmals urkundlich erwähnt, bewilligte Wilhelm Moritz von Heßberg 1563 den Friedhof „am Steig“ offiziell, Friedrich Albert von Heßberg 1602 den Bau eines Leichenhauses für rituelle Waschungen und eine erste Mauer.

 

An diesem „Guten Ort“, im „Haus des (ewigen) Lebens“ sollen die Toten bis zur Ankunft des Messias ruhen. Heute erfolgen jüdische Bestattungen in Unterfranken allerdings ausschließlich in Würzburg.

 

Dass der Jüdische Friedhof, auf dem rund 20 Gemeinden bestatteten, gerade in Rödelsee angelegt wurde, hatte Gründe. Nach fürstbischöflichen und markgräflichen Vertreibungen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts aus Städten wie Würzburg oder Kitzingen konnten sich Jüdinnen und Juden in diesem Dorf unter vier konkurrierenden adligen und kirchlichen Herrschaften niederlassen, was den sogenannten Schutzjuden manchmal zum Vorteil gereichte. Zudem lag Rödelsee geographisch günstig in Bezug auf Nachbarorte und Handelsrouten, wovon später vor allem Weinanbau und Weinhandel profitierten.

 

Der eigene Friedhof bildete für die sich schnell entwickelnde Judenschaft einen Eckpfeiler gemeindlichen Lebens.

 

Für Verwaltung, Aufsicht und Pflege bot sich die örtliche jüdische Gemeinde an.

 

Drei originale Bände des Friedhofsbuchs existieren im Archiv des Fördervereins ehemalige Synagoge Kitzingen. Angelegt 1885 von Abraham Kissinger bis zur sorgfältig durchnummerierten Führung der Sterbelisten 1930 – 1940 durch Hermann und Sophie Löwenstein können damit Grabstellen eindeutig Persönlichkeiten zugeordnet werden.

 

Durch die Jahrhunderte sind immer wieder Schändungen und die Entwendung von Grabsteinen dokumentiert – leere Grabfelder und der Verlust des in der Reichspogromnacht in Brand gesteckten Taharahauses zeugen davon.

 

Mit rund 19.000 qm gehört der Jüdische Friedhof Rödelsee zu den größten in Bayern. Im Landkreis gilt er als der zweitälteste Friedhof nach dem Bergfriedhof Hohenfeld. Frühere jüdische Begräbnisorte in Dettelbach und Rehweiler sind verschwunden, der gut erhaltene jüdische Friedhof in Hüttenheim ist deutlich kleiner, rund 200 Jahre alt und erzählt seine eigene Geschichte … Der Jüdische Friedhof Rödelsee – heute auch ein „Guter Ort“ für innere Einkehr und Entdeckungen: seien es rare Wildblumen oder ein jüngst unter Efeu entdecktes, wohl seit 1850 vermauertes Tor.

 

2023 gestaltete die Gemeinde Rödelsee den Vorplatz des jüdischen Friedhofs zu einem Ort der Information und Kontemplation für alle interessierten „Zaungäste“: Ein Podest erlaubt Blicke über die Mauer auf die unterschiedlichen Gräberfelder. Ein eindrucksvolles Tastmodell gewährt Übersicht über die gesamte Anlage. Informationstafeln illustrieren und beschreiben den Ablauf von Bestattungen nach den rituellen Vorgaben der Torah und die Geschichte des Jüdischen Friedhofs Rödelsee.

 

Der vergoldete Davidstern auf dem Dach des „Priesterhäuschens“ zieht die Blicke auf sich. Von hier aus konnten die Kohanim (Männer priesterlicher Abstammung) von außerhalb der Mauer die Gräber der Angehörigen sehen – ohne, gemäß der rituellen Vorgabe, den Friedhof zu betreten. Ihre Grabmäler zieren segnende Hände – das Signet des Netzwerks Jüdischer Friedhof Rödelsee.

 

Die 2.100 noch vorhandenen Grabsteine (einst 5.000) für rund 20 Gemeinden des Friedhofsdistrikts

sind nach Osten/Jerusalem ausgerichtet. Da jedes jüdische Grab nur einmal belegt wird, wurde der Friedhof mehrfach erweitert, so dass gleichartige Gräberfelder einer Epoche entstanden.

 

Für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten errichtete man ein eindrucksvolles Denkmal.

 

Auf den Grabsteinen fallen dekorative Bildsymbole ins Auge: die Kanne der Leviten, das Schofar-Horn, abgebrochene Säulen, geknickte Rosen, die „Krone des guten Namens“…

 

Die Inschriften beginnen mit zwei hebräischen Buchstaben („Hier ruht“) und enden mit den fünf der Schlussformel „Seine/Ihre Seele sei eingebunden in den Bund des Lebens“.

 

Ende des 19. Jahrhunderts wurde die hebräische Schrift durch deutsche Texte ergänzt, wie auch Daten lange nur nach jüdischer Zeitrechnung (beginnt 3761 Jahre früher) angegeben wurden.

 

Verwaltung und Begräbnisse organisierten die Juden in einer Chewro, einer ehrenamtlichen Bruderschaft. Die Chewra Kadischa (ein weiblicher Beerdigungs- und Wohlfahrtsverein) kümmerte sich auch um Schwerkranke und die Versorgung der Trauergemeinde.

 

Innerhalb von 24 Stunden mussten Verstorbene vom Wohnort zum „Judenacker“ transportiert und bestattet werden.

 

Die jüngsten, ältesten und kranken Trauernden gaben den Toten nur bis zur Ortsgrenze Geleit.

 

Rituelle Waschung und Einkleidung erfolgten auf dem Friedhof im Taharahaus. Dieses markiert heute ein Gedenkstein an die Opfer des Nationalsozialismus. Vom Bauwerk blieben nur Hinweise auf einen Tiefbrunnen, Erweiterungspläne von 1921 und ein Foto. Es zeigt die ausgebrannte Ruine nach dem Pogrom vom 10. November 1938.

 

Wurden jüdische Friedhöfe früher gemieden und immer wieder geschändet, zieht dieser verschlossene Ort in den letzten Jahren Leben und Lebendige an. Über historisches Interesse hinaus, rührt er wohl ganz direkt an die Frage nach dem persönlichen letzten Verbleib und die Auseinandersetzung mit der Trauerkultur in unserer Gesellschaft

 

Margret Löther