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Kitzingen – Stadt der hundert Weinhändler!?

Kitzingen malerisch umrahmt von Weinbergen, mitten im fränkischen Weinanbaugebiet. Der einstige Beiname „Stadt der hundert Weinhändler“ ruft dennoch Ungläubigkeit hervor und wirft Fragen auf…

1835 sind unter Kitzingens Gewerbetreibenden 20 christliche Weinhändler und 32 Büttner verzeichnet, 1906 tatsächlich 50 christliche und 52 jüdische Weinhändler! Das Büttner-Handwerk vergrößerte sich ebenfalls, blieb aber in christlicher Hand.

Als der Weinhandel, der traditionell mit dem Weinanbau die Schlüsselbranche der Stadt gebildet hatte, in die Krise geraten war, hatte sich Bürgermeister Andreas Schmiedel (1859 – 1881) nach der Aufhebung des „Judenedikts“ 1861 gezielt um die Ansiedlung jüdischer Gewerbetreibender bemüht. Juden konnten nun erstmals Wohnort und Beruf frei wählen und der Landproduktehandel, zu dem der Weinhandel zählte, war ein Gewerbe, für das vom Magistrat kein Befähigungsnachweis verlangt wurde.

1864 ließ sich der erste jüdische Weinhändler, Emil Hellermann aus Rödelsee, in der Ritterstraße nieder. 1865 zogen die Getreide- und Weinhändler Aron und Nathan Gerst aus Frankenwinheim in die Würzburger Straße.

Im gleichen Jahr wurde Kitzingen an die Eisenbahnlinie Nürnberg – Frankfurt a.M. angeschlossen – eine Voraussetzung für neue Vertriebsmöglichkeiten, die die Weinhändler zu nutzen wussten.

Neben ihrer betrieblichen und geschäftlichen Etablierung betrieb diese Generation von Anfang an auch die Gründung einer israelitischen Kultusgemeinde. Provisorisch konnte im Hause Hellermann ein Betsaal eingerichtet werden, das Ritualbad in Mainstockheim durfte mitbenutzt werden, Religionsunterricht für die Kinder und auch der wöchentliche Gottesdienst fanden zunächst in der kleinen Sickershäuser Synagoge statt. Die Gemeindeämter wurden besetzt und umgehend die Planung und Finanzierung einer repräsentativen Synagoge für eine wachsende Gemeinde der Zukunft in die Wege geleitet.

Der prosperierende jüdische Weinhandel sorgte für gesteigertes Auskommen bei Winzern und Häckern, neue Arbeitsplätze im Weinvertrieb, zog weiteres Gewerbe und Fabrikgründungen nach sich, z.B. Fassfabrikation, Druckereien und Transportfirmen, und erhöhte kräftig die Steuereinnahmen der Stadt.

Die Transport-Gesellschaft H. Hausmann entwickelte sich ab 1900 unter Simon Hausmann zur Deutschen Weinkesselwagen-Gesellschaft mit eigenen Güterwagen.

Jüdische Weinhändler engagierten sich finanziell, sozial, kulturell und ideell nicht nur zum Wohl ihrer Gemeinde, sondern gelangten in der Stadtgesellschaft durch Können, Bildung, Disziplin und Fleiß zu höchsten Ämtern und Titeln. So wurde Emil Hellermann der erste jüdische Geschworene am Landgericht Kitzingen, Max Fromm und Isidor Ullmann wurden als Stadträte gewählt.

Im christlichen Weinhandel hatte sich die Firma Meuschel zur Branchenführerin entwickelt. Küfer und Weinhändler Johann Wilhelm Meuschel aus Buchbrunn hatte 1826, unter dem Druck eines gesättigten Weinmarkts und des Wegfalls früherer Großabnehmer, die bahnbrechende Idee entwickelt, selbst mit einem Handelswagen loszufahren und seinen Wein persönlich zu verkaufen. Sein ebenso erfolgreicher Nachfolger, jetzt Kitzinger Weinhändler, Wilhelm Meuschel, rief 1900 den Fränkischen Weinhändler Verein ins Leben, der Einfluss auf die Weingesetzgebung und Ausfuhrbestimmungen nehmen und seinen Mitgliedern gewerblichen Schutz bieten sollte.

Zur markantesten jüdischen Weinhändlerpersönlichkeit wurde Max Fromm (1873 – 1956), dessen Vater Nathan 1892 aus Großlangheim kommend, einen Weinhandel in der Wörthstr. 12 eröffnet hatte.

“Max Fromm, seit 1911 Königlich-Bayerischer Hoflieferant, war in seiner Branche als Weinfachmann und Unternehmer führend. Die Grundlage für den enormen Aufstieg der Firma bildete die weintechnische Kompetenz ihres Inhabers, verbunden mit einer außergewöhnlich guten kaufmännischen Begabung. Dazu gesellte sich eine ausgesprochen `begnadete Weinzunge´. Fromm galt als `Geschmackskünstler´ und als Meister im Verschneiden von Weinen, der dem Geschmack der Kunden Rechnung trug. Er arbeitete fortwährend an der Verbesserung der Kellertechnik und der Lagerfähigkeit des Weins. Trotz der schwierigen Zeiten während und nach dem Ersten Weltkrieg gelang es ihm, durch Innovationen in der Kellertechnik und Verbesserungen der betriebswirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Firma ständig zu vergrößern und den Umsatz zu steigern. So war die Weingroßhandlung Nathan Fromm zu dieser Zeit mit 89 Mitarbeitern der größte Betrieb in Kitzingen und zählte zu den größten jüdischen Weinhandlungen Deutschlands. Fromms Umsatz in den 1920er Jahren wird auf mehr als die Hälfte des gesamten Kitzinger Weinverkaufs geschätzt. Die Firma Max Fromm wuchs beständig, so dass die Kellerkapazitäten in und um Kitzingen nicht mehr ausreichten. Seine Großkunden waren unter anderem die Mitropa und der Deutsche Lloyd. Zum Leidwesen vieler Kitzinger verlegte er aus diesen Gründen seinen Firmensitz 1929 in das Zentrum des deutschen Weinhandels, nach Bingen am Rhein. Die Nazidiktatur zwang Max Fromm 1939 zur Auswanderung nach London und schließlich 1941 in die USA zu seinem Sohn Alfred, der 1936 mit Franz Sichel eine der ganz frühen kalifornischen Weinhandelsfirmen gegründet hat.” (E. Schwinger)

Antisemitischen Tendenzen und Umtrieben waren die jüdischen Weinhändler, wie die übrige jüdische Bevölkerung, in Kitzingen, aber auch in fränkischen Weindörfern und der Stadt Würzburg, permanent ausgesetzt. Beschrieben wird der aufwallende Volkszorn bereits bei Planung und Bau der Synagoge, dokumentiert ist auch auch ein berufsbezogenes “Ortsstatut” 1907 des Stadtmagistrats, das der ultranationalistische “Handelsgehilfenverband” mitverfasst hatte. Es sorgte für massive Einschränkungen, die die Konkurrenzfähigkeit der jüdischen Weinhändler nachhaltig beschädigten.

Als sich der 1876 in Mainstockheim geborene, ebenso vermögende wie großzügige Weingroßhändler und Grundstücksmakler Max Stern in der Nachfolge Max Fromms um den Titel eines Kommerzienrats bemühte, konnte der jüdische Kandidat im Stadtrat keine Mehrheit mehr finden. Er und seine Ehefrau Rosa gerieten auf perfide Weise in die bürokratischen Mühlen des NS-Staates und wurden im April 1942 nach Lublin/Izbica deportiert und dort ermordet.

Ausgelöst durch den Pogrom vom 10. November 1938 starb der Weinhändler Salomon Sonder an einem Schock, sein Berufskollege Adolf Kahner überlebte einen Suizidversuch nur um kurze Zeit. Im Sommer davor war der Weinhändler Moritz Reich in Hildesheim der Gestapo ins tödliche Netz geraten. Der letzte jüdische Gemeindevorsteher, Weinhändler Gustav Gerst (1871 – 1944), Sohn des Nathan Gerst, überlebte die Deportation nach Theresienstadt nicht. Der gelernte Religionslehrer und spätere Weinhändler Emanuel Katzmann (1889 – 1942) nahm die bittere Bürde auf sich, die verbliebenen Kitzinger Juden und Jüdinnen durch Pogrom und Deportation zu führen.

Vom Leben, Wirken und Wirtschaften der Kitzinger Weinhändler zeugen bis heute im Stadtbild viele stattliche Wohn- und Geschäftshäuser (mit riesigen Weinkellern), vom Sterben ihrer Vorfahren in Friedenszeiten finden sich ebenso zahlreiche und stattliche Mazevot auf dem Jüdischen Friedhof Rödelsee. Erstaunlicherweise ist darunter nur ein einziger Grabstein mit einem Weintrauben-Motiv geschmückt, gilt der Wein im Judentum doch auch als Symbol des Neubeginns und neuen Segens.

 

Quellen und Literatur

Mehr als Steine … Synagogen-Gedenkband Bayern, Hrsg. Wolfgang Kraus, Hans-Christoph Dittscheid, Gury Schneider-Ludorff, Band III/2.2, Landkreis Kitzingen, Lindenberg i. Allgäu 2021

Michael Schneeberger, Gedenkbuch Kitzingen „Yiskor“ – zum Gedenken an die in der Shoah ermordeten Kitzinger Juden. Kitzingen 2011

Elmar Schwinger: Von Kitzingen nach Izbica. Aufstieg und Katastrophe der mainfränkischen Israelitischen Kultusgemeinde Kitzingen. In: Schriften des Stadtarchivs Kitzingen (Hrsg. Doris Badel), Band 9, Kitzingen 2009